Sonntag, 1. Oktober 2006

Abfliegen?

Auf einem Krisenblog aus Elista heißt es „wir schätzen die Wahrscheinlichkeit, dass das Match am Montag weitergeht, auf 40 Prozent und die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Spieler am Montag einen Flieger nach Hause nimmt, auf 50 Prozent (es gibt eine 10-Prozent-Chance, dass etwas ganz anderes passiert)."

Was müsste nach den Regeln der gesunden Menschenverstands (auch wenn dieser im Falle der FIDE selten für Prognosen taugt) wirklich geschehen, wenn sich Kramnik und Topalow unter Iljumschinows Leitung nicht einigen? Dann muss natürlich die FIDE entscheiden. Entweder es folgt die fünfte Partie beim Stand von 3:1 für Kramnik oder die sechste Partie beim Stand von 3:2. Falls der sich benachteiligt fühlende Spieler abreist, wird die FIDE den anderen zum Sieger erklären und ihm 500 000 US-Dollar ausbezahlen. Der abgereiste Spieler wird leer ausgehen und dürfte gegen die FIDE klagen.

Topalow und Danailow traue ich nicht zu, dass sie dieses Risiko eingehen. Kramnik und Hensel dürften eher bereit sein, den Rechtsweg zu gehen, den Hensel ja auch bereits in seinem Protest gegen die (mittlerweile revidierte) Entscheidung des (mittlerweile geschassten) Schiedsgerichts erwähnt hat.

Nachtrag: Sonntag kurz vor 23 Uhr lese ich, dass das Match beim Stand von 3:2 für Kramnik am Montag mit der sechsten Partie fortgesetzt wird. Meines Erachtens die riskantere Entscheidung für die FIDE, denn der Vertrag und die Regularien sprechen weitgehend für Kramnik, aber wenn er und Hensel in keinem Punkt nachzugeben bereit waren, ist es keine Überraschung.

Verstopfung

Seit Mittwoch abend haben Kramnik und Topalow keinen Zug mehr ausgeführt. Außerhalb des Spielsaals sind sie umso aktiver: Proteste werden ausgetauscht, Videos analysiert, Presseerklärungen abgegeben. Statt am Brett sitzen sie einander am Verhandlungstisch gegenüber. Es gibt sogar Großmeister, die ihre Positionen kommentieren.

Die ersten Partien haben die Liebhaber des Spiels begeistert. Was danach geschah, begeistert die Redaktionen. Schach ist wieder in den Schlagzeilen. Die Superschlauen wissen bereits, dass alles inszeniert ist. Die Medien widerstehen ja auch nur schwer der Versuchung, Witze über die ums stille Örtchen streitenden Superdenker zu reißen.

Wenn ein Spieler den einzigen Ort, an dem er während der Partie unbeobachtet ist, fünfzig Mal oder auch nur zwanzig Mal aufsucht, ist das verdächtig. Am Protest von Topalows Manager Danailow ist nicht der Inhalt sondern der Stil kritikwürdig. Aber beim Stande von 1:3 heiligt wohl der Zweck die Mittel.

Auf den von Danailow ausbaldowerten Bulgarischen Angriff folgte das bei einer 3:1-Führung selten angewandte Kramnik-Gambit (1. Ich ziehe nicht). Seitdem haben wir: Verstopfung.

Nach fast zwei Tagen Verhandelns jubelt die FIDE gleich in zweifacher Ausfertigung „das Waschraum-Problem ist gelöst“. Kramnik soll nun ins bisher Topalow zugedachte Becken pinkeln und umgekehrt. Wie die WM zu retten ist, ob unter den Bedingungen Kramniks (3:1), Topalows (3:2) oder Iljumschinows (Verlängerung des Matches um zwei bis vier Partien), tangieren die FIDE-Mitteilungen erst gar nicht.

Verhandlungsmasse gibt es durchaus noch: Kramnik könnte – und sollte – sich von den in der russischen Presse (nicht zuletzt durch den russischen Olympiatrainer Sergei Dolmatow) gegen Topalow erhobenen Betrugsvorwürfen distanzieren. Die FIDE könnte – und sollte – sich für die Weitergabe des Videos aus Kramniks Ruheraum entschuldigen. Und vielleicht legt Iljumschinow ja eine Teilnahmegarantie an der nächsten als Rundenturnier geplanten WM für beide Spieler statt nur des Siegers auf den Tisch. Dies ginge nur auf Kosten nicht Anwesender, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es Teil eines Kompromisses wird, auch wenn es nicht unbedingt sofort bekannt gemacht wird.

Nachtrag: Sonntag 23 Uhr sind alle Spekulationen müßig, denn die FIDE hat entschieden, das Match beim Stand von 3:2 für Kramnik mit der sechsten Partie fortzusetzen. Was auf den Verhandlungstisch kam, wird man wohl in mehreren Versionen zu hören bekommen. Aber erstmal wird wohl ein Sturm der Entrüstung über die FIDE niedergehen, weil Kramnik formal weit gehend im Recht ist.

Chess, Lies and Videotapes

Kramniks Manager Carsten Hensel hatte schon vor der Reise nach Kalmückien von möglichen Provokationen gesprochen und angekündigt, keinen Fingerbreit nachzugeben. Diese Haltung hat am Freitag dazu geführt, dass Kramnik eine 3:1-Führung aufs Spiel gesetzt hat, indem er, nachdem das Schiedsgericht auf einen Protest von Topalows Manager Danailow eine sowohl formal unzulässige als auch einseitige Entscheidung getroffen hatte, nicht zur fünften Partie antrat.

„Es war eine geschickte Provokation von Danailow“, sagt Ilja Balinow. Der in Wien lebende Bulgare kennt Danailow und Topalow seit Jugendtagen. „Kramnik hätte darüber lachen sollen und anbieten, dass er seine Notdurft direkt am Brett verrichtet.“ Stattdessen lehnte Hensel jede Änderung der Matchbedingungen als Vertragsbruch ab. Stärker noch, er forderte eine schriftliche Entschuldigung von Danailow und den Austausch des Schiedskomitees (dem Makro und Asmai wohl nur deshalb angehören, weil es für normalerweise so gut wie keine Arbeit viele Tausend Dollar Vergütung gibt) wegen Parteilichkeit. Diplomatisch war sein Vorgehen nicht, sondern eher adrenalingesteuert.

Man versteht Hensels Vorgehen freilich besser, berücksichtigt man die schlechten Erfahrungen, die er mit der Gegenseite gesammelt hat. Dabei hatte er sich noch Ende 2001 der FIDE als Marketingmanager anzudienen versucht. Die Prager Einigung 2002 ist nicht nur aus Hensels Sicht an der Wortbrüchigkeit der FIDE gescheitert.

Seit etwa einem Jahr ist er auch wiederholt mit Silvio Danailow aneinander geraten. Im November 2005 verhandelten die beiden über die Ausrichtung des WM-Kampfes in Bonn. Ob Hensel bluffte oder tatsächlich Sponsoren für die in Aussicht gestellten 1,3 Millionen Euro Preisgeld sicher hatte, wurde nie bekannt. Die RAG, Hauptsponsor des Computer-Schaukampfs Ende November, stand nach eigener Aussage jedenfalls nicht dahinter. Es scheiterte nämlich schon an Hensels Bedingung, das Match außerhalb der FIDE auszutragen. Danailow ist nämlich in der FIDE, sagen wir mal: gut vernetzt. Während der letzten Monate schmiedete der Bulgare zudem eine Allianz der großen Einladungsturniere, die ab 2008 als „Grand Slam“ durch einen Prämientopf verbunden sein sollen – unter Ausschluss der Dortmunder Schachtage, denen Hensel noch als Berater verbunden ist.

Bis die von Hensel erwartete Provokation kam, lief das Match nach Maß für Kramnik. Zugleich prügelte die russische Presse auf Toppy ein. So wurde in den letzten Tagen gerne aufgegriffen, dass der russische Cheftrainer Sergei Dolmatow den Bulgaren des Betrugs bei seinem überlegenen WM-Sieg im vorigen Jahr zichtigte. Die Gelegenheit, den Psychokrieg abseits des Bretts zu erwidern, kam für Danailow, als er die Videoaufzeichnungen aus Kramnik Rückzugsbereich zugespielt bekam. Etwa von seinen Freunden Makro und Asmai?

Alles in allem eine höchst überflüssige Affäre, von der nun, Sonntag vormkttag, immer noch nicht klar ist, ob sie wohlmöglich zum Matchabbruch führt. Immerhin gibt es gegen 11 Uhr eine Annäherung: Die Toilettenfrage ist gelöst. Iljumschinow opfert das Schiedskomitee. Ob Kramnik den kampflosen Punkt wiederkriegt, wird anscheinend noch verhandelt. Ich denke aber nicht, dass er ein 3:2 schlucken wird, da er angesichts der Fehlentscheidungen des Schiedskomitees (zu später Protest, falsche Entscheidung, zu spät informiert...) ja formal im Recht ist.

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